Notizen aus Meister Tians Biografie:
Wie Tian Liyang zum Wudangstil kam

 

Erzählt von Meister Tian Liyang, Proitzer Mühle, 23. November 2012

 

Meister Tian stammt aus einem sehr kleinen Dorf, wo es Anfang der 70er Jahre eine sehr rückständige und schlechte Infrastruktur gab – so gab es zum Beispiel weder Telefon noch Fernsehen. Dorfbewohner, die nur zwei Jahre älter sind als Tian Liyang, haben noch richtigen Hunger erlebt. Das Dorf selbst lag auch sehr abgeschieden; schon die 100 km entfernte Kreisstadt haben vor allem die ältesten Bewohner seines Dorfes nie besucht, und bis nach Wudang wären es damals drei Tagesreisen gewesen. Erst durch die Öffnungspolitik erfuhr er überhaupt etwas von Wudang.

 

Im nächsten Ort gab es ein Kino, in dem man ab und zu einen Film sehen konnte. Nach einem (Spiel-)Film über Shaolin war Tian Liyang vom Wushu sehr begeistert.

Der Vater von Tian Liyang war extrem fleißig und tüchtig; er arbeitete ungefähr 20 bis 30 Kilometer außerhalb des Dorfes, wo er Bäume fällte, die dann zur Kreisstadt geschickt wurden. Der Familie von Meister Tian ging es dadurch noch relativ gut. Ansonsten waren rund um das Dorf eher bäuerliche Strukturen vorherrschend. Auch Tian Liyang ist noch in dieser bäuerlichen Umgebung aufgewachsen und hat auf den Feldern geholfen.

 

Wenn Tian Liyang aus der Schule kam, blieb ihm kaum Zeit für Hausaufgaben, sondern er musste sofort aufs Feld; auch seine Eltern legten keinen großen Wert auf Bildung.

In der Region, wo Tian Liyang damals lebte, wurden vor allem Kartoffeln angebaut. Reis war etwas Besonderes, was es nur ungefähr einmal im Jahr (zum Frühlingsfest) gab; ansonsten gab es häufig Mais und Süßkartoffeln. (Das ist auch der Grund dafür, warum Meister Tian auch heute noch gerne Kartoffeln isst, denn den Mais fand er damals furchtbar...)

 

Im Alter von sechs Jahren passierte ihm etwas Merkwürdiges. Tian Liyang war mit ein paar Spielkameraden draußen, als ein alter Mann zu ihm auf den Berg kam; er war blind und hatte eine Bimmel in der Hand. Es kamen damals nur sehr wenige Fremde in den Weiler; und Tian Liyang und seine Spielgenossen fragten sich, wie der blinde Mann überhaupt den Weg zu ihnen gefunden hatte.
Es stellte sich heraus, dass der Alte ein Wahrsager war, der sich anbot, ihnen die Zukunft vorherzusagen. Einem Jungen sagte er ein normales Leben voraus; einer älteren Frau wurde ein nicht so angenehmes Schicksal geweissagt.
Bei Tian Liyang brach dem Wahrsager der Schweiß aus, und er fragte, ob er ein Zeichen am Kopf habe, was einer seiner Freunde bejahte und ihm sagte, dass Tian Liyang ein großes Muttermal am Kopf habe. Der Wahrsager fühlte an dem Muttermal und sagte ihm daraufhin voraus, dass er einmal von einer Kunst leben würde. Tian Liyang lief nach Hause, um seinen Eltern von der Begegnung mit dem Wahrsager zu erzählen. Diese wollten den Alten zum Essen einladen, weil er ja sicherlich einen langen Weg hinter sich hatte. Sie haben lange, lange im Dorf und in der Umgebung nach dem alten Mann gesucht, haben ihn aber nicht mehr gefunden, obwohl er ja schon alt, gebrechlich und dazu noch blind war...

 

Tian Liyang hat die Grundschule besucht, wurde jedoch von seinen Eltern nicht wirklich gefördert, weil Bildung für sie nicht so wichtig war. Der Vater wollte ihn „in die Welt“ schicken, weil er einerseits den Worten des Wahrsagers glaubte und andererseits auch wollte, dass sein Sohn etwas lernte, wovon er leben konnte und freier war.

 

Im Alter von 12/13 Jahren meinten die Eltern, er solle Schneider werden, aber der Schneider hatte schon genug Schüler. Danach wurde er zu einem Korbflechter geschickt. Bei dem Korbflechter (weit weg von zu Hause) hatte er großes Heimweh, weil dieser sich nicht wirklich um ihn kümmerte und ihm nicht viel beibrachte. Nach einem halben Jahr brach er das Ganze ab und ging wieder nach Hause. Dort gab es jedoch außer Feldarbeit nicht wirklich viel zu tun. Er half manchmal den Nachbarn und flocht ab und zu Körbe für sie; er konnte davon einigermaßen leben.

Nach ungefähr einem Jahr arbeitete er mit seinem Vater und seinem Bruder zusammen im Straßenbau, was extrem anstrengend war, weil es als einziges Hilfsmittel eine Schubkarre gab. Nach einem Jahr gab er  diese Arbeit ebenfalls wieder auf.

 

Tian Liyang's Begeisterung für Wushu hielt nach den Filmen jedoch an: Er imitierte die Filmfiguren, indem er z.B. einen Sandsack aufhängte und darauf einschlug. Und obwohl er so hart arbeiten musste, hat er jeweils eine Stunde vor und nach der Arbeit trainiert. Von den anderen wurde er deshalb belächelt. Er wurde in diesem einen Jahr aber sehr kräftig. So trugen die anderen z.B. immer einen Sack Zement à 50 kg, während er zwei schleppte und das über weite Strecken.

Trotz der schweren Arbeit verdiente Tian Liyang recht wenig. Dann starb auch noch sein Chef, und er erhielt sein Gehalt erst am Ende des Jahres. Weil Tian Liyang jedoch noch jung war, hat ihm das damals nicht so viel ausgemacht.

 

Nach diesem Jahr war er wieder zu Hause und hatte immer noch den Wunsch, Kampfkünste zu erlernen. Zu Hause hatte er aber keinen Sandsack mehr. Seine Mutter gab ihm daraufhin einen Sack mit grünen Bohnen, auf den er eingeschlagen hat. Im nächsten Frühjahr gingen die Bohnen nicht auf, weil er alle kaputtgeschlagen hatte. Dafür wurde er hart bestraft, und es gab außerdem keine Bohnen mehr zu essen im nächsten Jahr. Einen Wushu-Lehrer hatte er aber immer noch nicht.

 

Zusammen mit seinem Bruder arbeitete er dann im Kohlebergbau unter primitivsten Bedingungen: Mit Karren wurden jeweils 200 kg transportiert. Tian Liyang hatte jedoch die 400-kg-Karren. Zu dieser Zeit war er ca. 12/13 Jahre alt. In dieser Zeit wurde ihm auch klar, dass er Geld sparen wollte, um wegzugehen; so hat er ein halbes Jahr gearbeitet und gespart.

 

Zum Frühlingsfest kam ein Verwandter von etwas weiter her und schlug ihm vor, mit ihm zusammen Geschäfte zu machen. Tian Liyang war klar, dass aus ihm nichts werden würde, wenn er in seinem Dorf bleiben würde – dann würde er nur Bauer oder etwas Vergleichbares werden. Manche seiner Freunde dagegen machten jedoch schon eine Ausbildung oder studierten sogar.

 

Der "Mittlere Wudang“ ist ein Berg, der zum Wudanggebirge gehört und dort liegt, wo Tian Liyang im Straßenbau gearbeitet hat. Ab und zu stieg er auf den Berg und sah die daoistischen Klöster und war sehr beeindruckt davon.

 

Mit seinen Verwandten hat er dann Ferkel gekauft und verkauft; die Gerätschaften waren da schon etwas moderner (mit anderen Worten: es gab Fahrräder...). Zu dieser Zeit war Tian ca. 16 Jahre alt. Mit dieser Arbeit hat er ein paar Monate sein Geld verdient; es war etwas mehr als im Bergbau.

 

Als Tian Liyang einmal mit seinem Fahrrad unterwegs war, hat er eine Anzeige gesehen: „Schüler gesucht für Wushu“. Er erklärte seinen Verwandten seinen Wunsch und bat sie, ihn zu unterstützen. Die Verwandten wollten das jedoch nicht, weil sie mit seinen Eltern abgemacht hatten, mit ihm zusammen Geschäfte zu machen. Er sollte also erst wieder nach Hause, um seine Eltern zu fragen. Ihm war aber klar, dass seine Eltern ihn dann nicht wieder gehen lassen würden.

 

Immerhin hat er seine Verwandten dazu gebracht, sich gemeinsam mit ihm die Schule anzuschauen. Als er die Schule und die Schüler in ihrer Trainingskleidung sah, hat er gesagt: „Hier gehe ich nicht wieder weg!“
Die Verwandten wollten dann seinen Eltern Bescheid geben, weil sie nichts machen konnten, aber Tian Liyang wollte nicht, dass seine Eltern davon erfuhren, weil sie sich sonst Sorgen gemacht hätten.

 

Als Tian Liyang seinen ersten Tag in der Schule hatte, war zufällig auch Meister You Xuande da, der als Repräsentant der Wudangkultur eingeladen war, um dort eine Zeitlang zu unterrichten. Tians Liyangs Mitschüler waren von seiner Kraft beeindruckt und auch von der Tatsache, dass er von so weit her kam. Meister You wurde also von Tian Liyang berichtet. Er wollte seine Kraft testen, worauf Tian ein Loch in die Wand schlug. Nach einer weiteren Geschicklichkeit befragt, antwortete er, er könne nichts weiter. Meister You forderte dann, Tian solle versuchen, ihn zu schlagen. Die Mitschüler applaudierten...

Tian Liyang versuchte es, aber der Lehrer wehrte ihn ganz leicht ab und piekte ihm in die Augen. Dann wollte er seine Kicks demonstrieren und zielte auf den Bauch des Lehrers, doch der wehrte den Tritt auch ganz leicht ab. Tian Liyang überschlug sich, zerriß sich die Hose und hatte ein dreckiges Gesicht. Er wurde wütend und wollte den Lehrer wieder schlagen, doch der wehrte ihn erneut ab – Tian Liyang flog durch die Luft. Danach hatte er so viel Angst, dass er sich hinter einem Baum versteckte...

 

Nach diesem Erlebnis schwor er sich, auch so gut zu werden. Er übte also fleißig Wushu. Neben der Schule musste Tian aber auch noch Geld verdienen; es war ein hartes Leben.

Nach einem Jahr ging Meister You zurück in die Wudang-Berge, was Tian Liyang sehr traurig machte, weil Meister You so ein guter Lehrer war. Er hatte jedoch keine andere Möglichkeit, als an dieser Schule zu lernen.

Dann gab es einen Lehrer-Wechsel – der neue Lehrer war eher ein Ringer und zudem sehr cholerisch. Dieser Lehrer hat Tian Liyang jedoch nicht zu Boden ringen können. Da wurde ihm klar, dass er von ihm nichts lernen konnte, sondern dass er Meister You folgen wollte. Dafür brauchte er aber wieder Geld, und seine Eltern wussten auch noch nicht Bescheid; aus diesem Grund ging er erst einmal wieder nach Hause.

 

Dann traf er wieder einen Verwandten, der ihm riet, als Assistent zur Polizei zu gehen, weil er so kräftig und trainiert war. Bei der Polizei verdiente er jedoch nur ein Drittel von dem, was er mit dem Ferkel-Verkauf verdient hatte. Es war allerdings eine angesehenere Arbeit. Außerdem hatte er dort mehr Freizeit und konnte trainieren. Und er konnte mehr Filme gucken und wurde auch ab und zu zum Essen eingeladen.

Die meisten seiner Kollegen bei der Polizei kamen vom Militär und gingen abends aus, um sich zu vergnügen, wohingegen Tian Liyang abends lieber übte, wofür er von seinen Kollegen belächelt wurde. Die Arbeit bei der Polizei war aber auch anstrengend, weil er natürlich immer wieder mit Kriminellen zu tun hatte. Einmal bekam Tian Liyang sogar eine Ehrenauszeichnung, weil er einen Verbrecher gefangen hatte, der aus dem Gefängnis geflohen war. Er war bei seinen Vorgesetzten und Kollegen sehr beliebt, die ihn aber auch ganz gerne vorschickten, wenn es um Kriminelle ging...

Wäre er bei der Polizei geblieben, hätte er nach drei Jahren auch aufsteigen können. Ihm wurde aber klar, dass diese Arbeit nicht seinen Idealen entsprach, auch wenn es gute Arbeit war.

 

Nach einem Jahr ging er in die Wudangberge, um seinen Meister zu suchen. Drei Tage lang suchte Tian Liyang den Meister, der immer schon weg war, wenn er kam. Schließlich fand er ihn und fragte ihn, ob er ihn Wushu lehren könne. Der Meister sagte jedoch, dass sie zur Zeit keine Schüler aufnehmen würden; er solle in einem Jahr wieder kommen. Nach einem weiteren Jahr bei der Polizei kehrte er im Winter zurück nach Wudang, aber der Meister wies ihn erneut ab. Da Tian Liyang keine Lust hatte, wieder bei der Polizei zu arbeiten, arbeitete er bei einem anderen Verwandten als Assistent im Straßenbau, wo er so viel verdiente wie beim Ferkel-Verkauf.

 

Am Jahresende ging er wieder in die Wudangberge, obwohl sein Verwandter das nicht verstehen konnte. Er wollte auch, dass seine Freunde mitkamen, die ebenfalls Wushu gelernt hatten, aber die wollten nicht mitkommen.

Als er seinen Meister gefunden hatte, sagte Tian Liyang zu ihm: „Du wirst mir jetzt nicht nochmal sagen, dass ich in einem Jahr wiederkommen soll.“ Der Meister sagte: „Gut – wir wollen sehen, ob du Wushu wirklich so sehr zu lernen wünscht.“ Tian Liyang war traurig, weil er für die paar Worte drei Jahre gewartet hatte; außerdem waren in der Zwischenzeit noch Schüler gekommen, die aufgenommen worden waren und bereits 1-2 Jahre gelernt hatten, obwohl sie später gekommen waren. Daraufhin sagte der Meister, er wolle ihn als Schüler aufnehmen.

 

Es gibt viele, viele Erlebnisse aus dieser Zeit, die ihn sehr beeindruckt und berührt haben. Tian Liyang hat ungefähr zehn Jahre bei Meister You gelernt und mit ihm zusammen eine große Schule aufgebaut. In dieser Zeit kam er auch mit der daoistischen Philosophie in Kontakt, was ihn tief berührte und was er als großen Schatz empfindet.

Zunächst waren sie im Kloster, dann bauten sie die Schule auf. Tian Liyang wurde erst Meisterschüler, dann Lehrer ersten, dann zweiten und dritten Grades und schließlich Geschäftsführer der Schule. Sie haben viele Schüler ausgebildet, und es war die größte Schule in Wudangshan.

Schließlich verließ Tian Liyang seinen Meister. Die Schule von Meister You wurde irgendwann abgerissen.

Wenn Tian heute zurückblickt, hätte er nie gedacht, dass er es einmal so weit bringen würde – es kommt ihm vor „wie im Himmel“...

 

Meister Tian hat einen Universitätsabschluss an einem daoistischen Institut. Er ist anerkannt als Tradierer der Wudangtradition und wird von der Regierung gefördert.